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Tagung 2015

Zur Psychodynamik von Persönlichkeitsstörungen

Einführung und thematischer Leitfaden

Deskriptiv sind Persönlichkeitsstörungen (PkSt.) nicht durch einzelne psychopathologische Erscheinungen und Syndrome definiert, sondern gelten als Ausdruck von zeitlich relativ konstanten Mustern des Erlebens und Verhaltens, die deutlich von erfahrbaren und allgemein akzeptierten Normen abweichen. Abweichungen äußern sich v.a. im Denken und Mentalisieren, in der Affektregulation, in der Art der Befriedigung von Wünschen und Bedürfnissen sowie in der Gestaltung zwischenmenschlicher Beziehungen.

Die Psychodynamik von PkSt. beschreibt zeitlich relativ stabile innere Muster von Kompensation und Abwehr. Was gilt hier als Kompensation und wie wird Abwehr eingesetzt, um die Kompensation herzustellen? Beispiel Narzisstische Pkst.: Kompensiert werden z.B. eine insgesamt fragile Selbstwertigkeit, ein „erschöpftes“ Selbst, Versagens- und Verlustbefürchtungen, Mängel primärer Identität; zur Abwehr des Erlebens einer solch psychischen Zerbrechlichkeit können dienen: Selbstüberhöhung, Aktivierung des Größenselbst, Selbstidealisierung, Identifikation mit einem idealisierten Objekt, um an dessen tatsächlicher oder vermeintlicher Größe teilzuhaben, Objektab- und -entwertung, Desinteresse an anderen, narzisstische Zufuhr über Lob, Bestätigung, Ruhm, Reichtum, Macht, Gewalt, Sexualisierung usw.

Zu beiden Konzepten der PkSt., dem deskriptiven und dem psychodynamischen, gehört eine entwicklungsorientierte Sichtweise, weil sich sowohl deskriptiv erfassbare Muster, als auch psychodynamisch angenommene innere Vorgänge im Lebensvollzug gebildet haben müssen. Wenn z.B. im diagnostischen Schema von Kernberg deskriptiv von einer Identitätsdiffusion die Rede ist, sind damit nicht etwa abgrenzbare Störungen persönlicher Identität (z.B: Rollenidentität, Geschlechtsidentität) gemeint, sondern psychophysische Verfassungen, die eine das betreffende Individuum kennzeichnende Identität nicht oder kaum erkennbar werden lassen. Um uns ein Bild davon zu machen, wie – d.h. auf welchen Be- und Verarbeitungswegen – sich derartige strukturelle Verfassungen sowie die stets vorhandenen Kompensationen und Abwehrstrategien im bisherigen Leben entwickelt haben könnten, hilft uns eine Zusammenschau aus:

  1. umfassendem Wissen über die Komplexität lebenslanger Entwicklungsprozesse und
  2. psychodynamischen Modellen, die innerpsychische Vorgängen bei PkSt. möglichst differenziert beschreiben.

Unser zentrales Arbeitsmedium ist der therapeutische Kontakt, die therapeutische Beziehung mit Übertragungen und Gegenübertragungen. In diesem Medium sollte die je individuelle Entwicklung unter einer Objekt-, Selbst- und Beziehungsperspektive erfasst und psychodynamisch angemessen eingeordnet werden.

Die aktuelle Forschungsstand zum entwicklungsorientierten Arbeiten in der Psychoanalyse zeigt, dass die früher bestimmende genetisch-lineare Betrachtungsweise psychodynamischen Denkens zu eng gefasst war (Psychopathologien führte man unmittelbar auf Ereignisse in der Kindheit zurück). Heute dominiert ein Denken in nicht-linearen Prozessen; es werden nun eine Vielfalt von Einflüssen aus und Erfahrungen in allen Lebensphasen berücksichtigt: aus Schwellensituationen, den unterschiedlichsten sozial-familiären Konstellationen sowie aus psychotherapeutischen (Vor-)Behandlungen. Zwar liefern nach wie vor Erfahrungen in Kindheit und Adoleszenz und deren Verarbeitung zu Recht einen gewichtigen Anteil für unsere psychodynamischen Konstrukte, jedoch eingebunden in ein erweitertes und teils revidiertes Verständnis von Entwicklung, das vielfältige Verzweigungen, Stillstände, Brüche, progressive und regressive Vorgänge bis zur Gegenwart umfasst. Ein Beispiel für ein revidiertes Entwicklungsverständnis: Fonagy und Target (2007) haben nachgewiesen, dass sich Autonomie und Bezogenheit parallel zueinander, nicht nacheinander entwickeln; sie gelten nun als zwei Grundkonstanten der Entwicklung über den gesamten Lebenszyklus.

Schließlich fragt sich jeder analytisch orientierte Psychotherapeut schon nach dem Erstkontakt: Wie verstehe ich das, was ich in diesem Kontakt nun erlebt und erfahren habe? Er macht sich also dabei auch Gedanken über den aktuellen Stand der Beziehungskompetenz des Patienten (besser: der Pat./Th.-Paarung) und versucht damit schon grob einen Aspekt des gegenwärtigen Entwicklungsstands zu erfassen. Ein solches Vorgehen basiert auf unserer Einsicht, dass auch jeder beginnende Therapieprozess einen Anteil an der weiteren Entwicklung und damit eine adaptive Funktion haben kann.

Literaturempfehlungen:

  • Wolfgang Mertens (2011): Entwicklungsorientierung in der Psychoanalyse – überflüssig oder unerlässlich?, Psyche – Psychoanal 65, 808-831, Klett-Cotta (Stuttgart)
  • RobertN. Emde (2011): Regeneration und Neuanfänge. Perspektiven einer entwicklungsbezogenen Ausrichtung der Psychoanalyse, Psyche – Psychoanal 65, 778-807, Klett-Cotta (Stuttgart)
  • Peter Fonagy und Patrick Luyten (2011): Die entwicklungspsychologischen Wurzeln der Borderline-Persönlichkeitstörungen in Kindheit und Adoleszenz: Ein Forschungsbericht unter dem Blickwinkel der Mentalisierungstheorie. Psyche – Psychoanal 65, 900-952, Klett-Cotta (Stuttgart)
  • Ulrich Streeck, (2006): Die interpersonelle Welt von Patienten mit schweren Persönlichkeitsstörungen, in: Springer, Gerlach, Schlösser (Hg.) Störungen der Persönlichkeit, Psychosozial-Verlag (Gießen) 
  • Tilman Grande (2007): Wie stellen sich Konflikt und Struktur in Beziehungen dar?, ZPsychosom Med Psychogner 53 144-162, Vandenhoeck & Ruprecht (Göttingen)
  • Frank Matakas, Elisabeth Rohrbach (2005) Zur Psychodynamik der schweren Depression und die therapeutischen Konsequenzen, Psyche – Z Psychoanal 59, 892-917, Klett-Cotta (Stuttgart)