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Im Schema des Parallelvorgangs

Die folgende Skizze: „Freud als Grenzgänger zwischen Physiologie und Psychologie“ soll die Entwicklung seines Denkens im Schema „relationaler Unabhängigkeit“ veranschaulichen.

Grenzgängersepia: „Freud als Grenzgänger zwischen Physiologie und Psychologie“

Die immer noch verbreitete Auffassung, Freud habe die psychologische Betrachtung an die Stelle der physiologischen gesetzt, muss also unbedingt korrigiert werden. Freud selbst hat allerdings eine solch unscharfe Interpretation seines Denkens nahe gelegt, indem er mehrfach warnte vor Problemen mit dem psychophysischen Parallelismus Fechners. Z.B. in Das Unbewusste, warnte er vor den „unlösbaren Schwierigkeiten des psychophysischen Parallelismus“ (1915e, 266), und noch im Abriss … – im Zusammenhang mit der Wiederholung seiner Ansicht, die Psychologie sei „auch eine Naturwissenschaft“ (143) –, schreibt er, die Philosophen (offensichtlich Fechner) seien zu der Annahme gezwungen gewesen, „es gäbe organische Parallelvorgänge zu den bewussten psychischen […], die die Wechselwirkung zwischen ‚Leib und Seele’ vermitteln“ (ebd.) – eine Auffassung, die Freud hier ausdrücklich zurückweist, weil sie auf eine Gleichsetzung des Psychischen mit dem Bewussten hinausliefe. Denn: Für die Psychoanalyse sei das Psychische unbewusst, das Bewusstsein „nur eine Qualität desselben, und zwar eine inkonstante Qualität, die häufiger vermisst wird, als sie vorhanden ist.“ (ebd., 144). Freud ist zuzustimmen, dass der theoretische Ansatz eines psychophysischen Parallelismus, wie von Fechner vertreten, das Psychische mit dem Bewusstsein gleichsetzt. Diese Gleichsetzung berührt jedoch allein das Inhaltliche, nicht aber das parallelistische Denken selbst. Dies hatte Freud – so lautet meine These –, spätestens seit 1888 (Vorrede … zu Bernheim) aufgegriffen, ausgearbeitet und weiterentwickelt, ohne es freilich als solches benannt zu haben.

Das von Freud etablierte wissenschaftliche Denken ist hochaktuell, was ich nun abschließend an zwei Beispielen zeigen möchte:

  1. In der Einleitung von Dieter Bürgin zum 1998 erschienenen Buch Erinnern von Wirklichkeiten (Hg.: M. Koukkou, M. Leuzinger-Bohleber u. W. Mertens), lesen wir folgendes: Nach der Betonung des enormen Zunahme an Wissen über unser Gehirn im Vergleich zur Zeit vor rund hundert Jahren könne man heute die Zusammenhänge zwischen dem objektivierbaren Anteil, dem Gehirn, und den subjektiven Erfahrungen, der Psyche besser verstehen. „Ausgangspunkte hierzu bilden die beiden Grundtatsachen: die Existenz des körperlichen Organs und das Vorhandensein unserer Bewußtseinsakte. Dieser duale Aspekt bleibt geheimnisvoll, darf aber nicht davon abhalten, ihn weiter zu erforschen.“ (36).
    Freud war, wie oben dargestellt, der Urheber dieser Grundannahme der Psychoanalyse.
  2. Das zweite Beispiel stammt aus der Neurowissenschaft. Es geht um die Gegenüberstellung von Realität und Wirklichkeit (im Sinne des „kritischen Realismus“) bei Gerhard Roth. Unsere phänomenal wahrnehmbare Welt bezeichnet Roth als „Wirklichkeit“. Wenn wir zustimmen, dass diese phänomenale Welt von unserem Gehirn konstruiert wird, seien wir gezwungen, eine „Welt“ anzunehmen, in der dieses Gehirn als „Konstrukteur“ existiert. Eine solche „transphänomenale“ Welt bezeichnet Roth als „Realität“.

Postulat 1:
Unsere „Wirklichkeit wird in der Realität durch das reale Gehirn hervorgebracht“ (2001, 325).

Diese Unterscheidung erscheint ihm deshalb zwingend, weil sich kein Gehirn selbst, z.B. beim Denken, Wahrnehmen, usw. erleben kann. Empfindungsmäßig ist uns selbst diese Realität nicht zugänglich. Nur andere, z. B. Hirnforscher, können eine Entsprechung zwischen einer Handlung und gleichzeitig ablaufenden neuronalen Vorgängen beobachten und diese in Relation zueinander setzen. Aber empfindungsmäßig sind unser Tun, unsere Handlungen direkt von unseren Absichten bestimmt, wir empfinden kein Gehirn dazwischen. Wir können uns aber vorstellen, dass derartige Vorgänge über unser Gehirn gesteuert werden (sie lassen sich als Hirnfunktionen sichtbar machen), dann haben wir Annahmen über das Entstehen – z.B. des Wahrgenommenem – in unserem Gehirn hinzugenommen, es aber nicht „empfunden, erlebt“.

Wir müssen uns also mit Entsprechungen zwischen „wirklich“ wahrnehmbaren mentalen oder auch psychischen Vorgängen und „realen“ neuronalen Prozessen begnügen. Nach dieser Auffassung wären einschlägige Erkenntnisse über die „Realität“ nur als hypothetische möglich, sie wären nie objektiv wahr. Das physisch-funktionale Gehirn mit all seinen Verbänden von Nervenzellen und deren Aktivitäten ist nicht dasjenige, welches mentale Zustände hervorbringt. Wir entdecken eben keine Farben, Formen, Gedanken, Phantasien und Erinnerungen, sondern – wie gesagt – nur Nervenzellen und deren Aktivitäten.

Postulat 2:
„Wir können in unserer Wirklichkeit nur die Parallelität beider Prozesse feststellen.“ (1994, 363).

Nach Roth bezeichnet „Realität“ somit eine bewusstseinsunabhängige „Welt“, ist eine „hypothetische Dimension“, in der Gehirne existieren, die mentale Prozesse hervorbringen, die uns als Ich konstituieren, uns ein „Innen“ und ein „Außen“ konstruieren, unsere „Wirklichkeit“ erschaffen, zu der freilich auch das Unbewusste im Sinne der Psychoanalyse gehört. Beispielsweise läßt sich bei einer somatoformen Störung des Körper-Schemas die Instabilität der Konstruktion der Körpergrenze zwischen innen und außen mit all ihren emotionalen Auswirkungen und vermuteten unbewussten Aspekten direkt nachvollziehen.

Näheres in: »Phantasie und wissenschaftliche Kreativität in der Psychoanalyse Freuds«


Literatur (ohne Freud):
  • Bürgin, D. (1998): Einleitung, in: Koukkou, M., Leuzinger-Bohleber, M. u. Mertens, W. (Hg.): Erinnerung von Wirklichkeiten, Stuttgart (VIP), Bd. 1.
  • Brückner, P. (1975): Sigmund Freuds Privatlektüre, Köln (RLV).
  • Mertens, W. (2004): Fragen an Freud – Wenn Freud heute noch leben würde, in: Mertens, W., Obrist, W., Scholpp, H. (2004): Was Freud und Jung nicht zu hoffen wagten … , Gießen (Psychosozial).
  • Spehlmann, R. (1953): Sigmund Freuds neurologische Schriften, Berlin, Göttingen, Heidelberg (Springer).
  • Roth, G. (1994): Das Gehirn und seine Wirklichkeit, Frankfurt/M. (Suhrkamp), 2001, 8. Aufl.
  • Roth, G. (2001): Fühlen, Denken, Handeln, Frankfurt/M. (Suhrkamp).