Solche Ziele, wie sie die Psychoanalyse anstrebt, stehen freilich beim Jazz nicht im Vordergrund, es sei denn in abgewandelter Form, z.B. wenn Jazz im Rahmen von Musiktherapie zum Einsatz kommt. Wie jede künstlerische Darbietung vor einem Publikum ist auch für den Jazz die lebendige Interaktion, die ästhetisch-emotionale Kommunikation mit dem Auditorium zentral. Das Arrangement eines Stücks, aber vor allem die Improvisationen, sind eine Spezifität beim Jazz – als Solo und beim Zusammenspiel. Hier zeigt sich die schöpferische Kreativität vor allem in Tonbildung, Phrasierung und Stil, zeigen sich instrumentales Können oder gesangliche Begabung des Solisten und der Band.
Manche Grundhaltungen und Prinzipien großer Jazzmusiker und Jazzkenner lassen sich zu den Grundeinstellungen in der psychoanalytischen Praxis in Beziehung setzen. Ich werde nun einige thematische und interaktionsdynamische Parallelen herausgreifen.
Ein bedeutsames methodisches Ideal einer professionellen Einstellung und Haltung von Analytiker wie Jazzmusiker ist:
Authentizität und Bezogenheit
Authentizität als Ausdruck der inneren Haltung, Bezogenheit im Austausch mit dem Analysanden bzw. mit dem Publikum.
«You have to be original, man!» [Lester Young]
«Wenn Billies Mund sich öffnete, war da viel Platz für Wahrhaftigkeit. Die Verletzungen und Verletzlichkeiten der Seele ließ ihre Stimme mit einer fast masochistischen Ehrlichkeit nach außen» [J.-E. Berendt über Billie Holiday]
Neben der Authentizität und Bezogenheit des Analytikers gelten grösstmögliche Aufrichtigkeit und Wahrhaftigkeit seitens des Analysanden als die wesentlichen komplementären Grundhaltungen im analytischen Arbeitsbündnis, weil dadurch eine emotionale Öffnung bezüglich der „Verletzungen der Seele“ begünstigt wird.
Über den musikästhetischen Genuss hinaus, eröffnen Authentizität und Bezogenheit des Musikers jedem Einzelnen im Publikum die Möglichkeit zur Selbsterfahrung: Wie jeder aus eigener Hörerfahrung nachvollziehen kann, werden durch Musik, Emotionen unterschiedlichster Tendenz (z.B. wohltuend oder aversiv) erzeugt, freigesetzt oder verstärkt. Dass solche Gefühlsregungen bei jedem Zuhörer unterschiedlich, manchmal auch gegensätzlich, ausfallen, läßt sich damit erklären, dass die evozierten Affekte zunächst gleichsam ohne „Inhalte“ auftreten, und dass jeder einzelne Zuhörer seinen spezifischen Inhalt in Form eigener Bilder, Tagträume, Erinnerungen usw. „hinzufügt“.
In der Psychoanalyse bezeichnet man solche individuellen „Inhalte“ als einen bewusst gewordenen Ausdruck psychischer Repräsentanzen. Ein solches Ineinander-Übergehen oder Zusammenfallen von Wahrnehmung und (Re-)Konstruktion macht also verständlich, warum die Empfindungen der Individuen im Publikum jeweils unterschiedlich sein können (nicht müssen). Nur eine spontan-emotional spürbare Präsenz in der musikalischen Darbietung (vor allem bei Improvisationen) und damit die Interaktion mit dem Publikum und den anderen Musikern wirkt also auch bezogen und authentisch. Beim Einzelnen herrscht aber nun nicht etwa Beliebigkeit in der inneren Welt der psychischen Repräsentanzen, sondern eine gewisse Regelhaftigkeit – man spricht deshalb auch von intrapsychischen Mustern. Wenn diese in den analytischen Sitzungen „zum Klingen“ gebracht werden können, kommt es zu einem kreativen Austausch, weil die Gefühls- und damit die Repräsentanzenwelt des Analysanden so angeregt wurde, dass von Emotionen getragene Erinnerungen, Tagträume, Phantasien, usw. auftauchen.